Raus ins wahre Leben!

Über die Frage, ob Journalisten ihre persönliche Meinung zu Veranstaltungen schreiben dürfen, an denen sie gar nicht teilgenommen haben

„Ehe man sich versieht, hängt man am Schreibtisch fest und blickt nur noch durch Bildschirme auf die Welt.“ Mit diesen Worten hat jüngst der Journalist und Medienfachmann Roland Pimpl eine Gefahr beschrieben, der die Journalisten ausgesetzt sind, seit das Internet zu ihrem wichtigsten Handwerkszeug geworden ist.

„Raus auf die Straße“ – diese alte Reporterweisheit geriet in den vergangenen Jahren ein bisschen in Vergessenheit, weil man durch Netzrecherche und Telefonate viel leichter an Informationen kommt als durch Treffen und Gespräche draußen, und weil es viel weniger Zeit kostet, dem Volk bei Facebook aufs Maul zu schauen, als Menschen im wirklichen Leben zu begegnen, sie an ihren Arbeitsplätzen oder in den Kneipen zu suchen und sich was erzählen zu lassen.

Natürlich gibt es sie immer noch, die „rasenden Reporter“, die viel unterwegs sind und ihren Leserinnen und Lesern hinterher anschaulich erzählen können, „was Sache ist“. Oder die losdüsen, wenn ein schweres Unglück gemeldet wird, statt auf Pressetexte und Fotos von Polizei oder Feuerwehr zu warten. In Krisen und Kriegen wie in der Ukraine oder in Israel merken wir, wie wichtig ist, dass Journalisten rausgehen, um sich selbst ein Bild zu machen. Einer Katrin Eigendorf, die durch Afghanistan reist oder einem Paul Ronzheimer, der mit Helm auf dem Kopf aus dem Kriegsgebiet berichtet, glaubt man eher als dem Korrespondenten, der im Studio in Nairobi sitzt und sich zur Lage im Tausende von Kilometern entfernten Timbuktu äußert.

Im Lokalen ist das nicht anders, selbst Erlebtes kommt in der Berichterstattung viel authentischer rüber als Berichte vom Hörensagen. Nun können allerdings nicht immer und überall Reporter vor Ort sein, und deshalb muss selbstverständlich auch über viele Dinge berichtet werden, bei denen man nicht dabei war. Das führt mich zu einem aktuellen Fall, der an mich herangetragen wurde. Ein Redakteur schrieb einen pointierten Kommentar zu einem politischen Thema, über das in einer Ausschusssitzung diskutiert und abgestimmt worden war. Die klare Meinung des Journalisten passte einer der beteiligten Ratsfraktionen nicht, sie beschwerte sich – auch darüber, dass der Kollege die Entscheidung kommentiert hatte, obwohl er an der Sitzung gar nicht teilgenommen hatte.

Nun ist es so: Wenn Journalisten nur kommentieren dürften, was sie selbst mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört haben, dann könnte ein Großteil aller politischen Kommentare überhaupt nicht erscheinen. Natürlich kann der Redakteur einer Zeitung in einer deutschen Stadt einen Leitartikel zum Krieg in Israel schreiben, ohne dort gewesen zu sein. Vorausgesetzt, dass er seine Meinung auf seriöse Informationen und fundiertes Wissen stützt.

Das ist im Lokalen nicht anders. Es dürfen (und müssen manchmal) auch Themen kommentiert werden, die die Redaktion erst im Nachhinein oder auf indirekte Weise erfährt. Sie muss sich das nötige Wissen dann eben durch sorgfältige Recherche erarbeiten.

Besser ist es in jedem Fall, selbst dabei gewesen zu sein, das macht Meinungsäußerungen authentischer und glaubwürdiger. Deshalb gilt auch in Zeiten von Personalmangel, Zeitdruck und Themenflut immer noch: So oft wie möglich sollten Journalisten den Bildschirm ausknipsen, den Schreibtisch verlassen und rausgehen ins wahre Leben.

Hinterlasse einen Kommentar