Die bedauernswerten Autofahrer

Über die Tücken der Unfallberichterstattung

Zu den Fingerübungen von Praktikanten und Volontären am Beginn ihrer Journalistenkarriere gehört das Schreiben von Polizeimeldungen. Da kann man nicht viel verkehrt machen, denken sich die Ausbilder. Alle Informationen, die man braucht, stehen schon in den Presseberichten der Polizei. Das Ganze etwas flotter und eleganter formuliert – fertig ist das Anfängerstück. Wenn es nur so einfach wäre …

An Unfallstellen ist es meist zunächst unübersichtlich. Wer Schuld hatte, lässt sich oft erst durch gründliche Ermittlungen klären. Umso mehr sollte in der Berichterstattung darauf geachtet werden, dass nicht vorschnell geurteilt wird – und dass der Journalist nicht die „Beifahrerperspektive“ einnimmt. Foto: Helmut Burlager

Die Berichterstattung über Unfälle ist in den letzten Jahren in die Kritik geraten, und das hat mit der Verkehrswende zu tun. Eine Gesellschaft, die jahrzehntelang auf den Ausbau der Automobilität gesetzt hat, beginnt langsam, sich aus unterschiedlichsten Gründen (Klima, Umwelt, Gesundheit, Unfallziffern, Staus) vom Vorrang für Autos zu lösen. Diesen Richtungswechsel haben nicht alle verinnerlicht, die auf Polizeiwachen die Lageberichte und in Redaktionen die Blaulichtmeldungen formulieren.

Nach wie vor wird in den Medien vieles aus der Sicht der Autofahrer und mit Verständnis für deren Sorgen beschrieben. Da überfährt nicht der Fahrer ein vierjähriges Kind, sondern das Kind ist „in das Auto gelaufen“. Da „erfasst“ ein Wagen eine Fußgängerin, weil der Autofahrer „von der tiefstehenden Sonne geblendet“ wurde und nicht, weil der Mann bei schlechter Sicht zu forsch unterwegs war. Eine Radfahrerin „stürzt in den Reifen eines Lkw“, wo doch in Wirklichkeit der Lastwagenfahrer die Frau an einer Einmündung umgenietet hat. Unfälle passieren in diesen Polizeimeldungen, weil ein Chauffeur „die Situation zu spät erkannt“ oder weil er einen Fußgänger oder Radler „übersehen“ hat und nicht, weil er zu schnell oder zu unvorsichtig fuhr. Alles Beispiele aus beliebigen deutschen Medien.

Kritiker nennen das die „Beifahrerperspektive“. Das mag daran liegen, dass die meisten Polizisten und Journalisten selbst Autofahrer sind, es kann aber auch damit zu tun haben, dass nach einer Kollision oft nur der Autofahrer vernehmungsfähig ist, weil der schwächere „Unfallgegner“ (auch so eine fragwürdige Formulierung) im Krankenhaus liegt und seine Version vorerst ungehört bleibt.

Das heikle Thema ist sogar wissenschaftlich untersucht worden, und in der journalistischen Aus- und Fortbildung wird die Branche dafür sensibilisiert, dass die Art der Berichterstattung auch die Art des Denkens beim Publikum prägen kann. Wenn Unfallopfer, obwohl der genaue Hergang meist noch nicht bekannt ist, in den Berichten oft als aktiv dargestellt werden („lief vor den Wagen“) und Verursacher als eher passiv („konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen“), dann löst das beim Lesenden andere Bilder aus, als würde es andersherum geschildert. Zum Beispiel in der Überschrift einer westfälischen Zeitung: „Radfahrerin kracht ohne Helm gegen Auto“. Was sich erst einmal nach „selbst schuld“ anhört, eventuelle Verletzungen eingeschlossen. In Wirklichkeit hatte eine Autofahrerin der Radlerin die Vorfahrt genommen.

Ein Leser hat uns jüngst auf ein anderes Phänomen aufmerksam gemacht. Er wies darauf hin, dass es in Polizeimeldungen häufig so klinge, als seien Kraftfahrzeuge führerlos unterwegs gewesen. Mit Formulierungen wie „Transporter tötet Radfahrer“ oder „Zwölfjährige von Auto angefahren“ werde unterschlagen, dass es ein Mensch war, der am Steuer des Kraftfahrzeugs saß und den Zusammenstoß möglicherweise verursacht hat. Die Person im Auto bleibe oft unsichtbar, hat vor einiger Zeit der Allgemeine Deutsche Fahrradclub beklagt und für eine sorgfältigere Unfallberichterstattung plädiert.

Darum bemüht sich auch diese Zeitung. Über das wichtige Thema, so teilte die Redaktionsleitung dem Briefschreiber mit, werde oft diskutiert. Die gute Nachricht lautet also: Das Problem ist erkannt.