Ein Forum, kein Pranger

Über die Frage, was in Leserbriefen erlaubt ist

Der kritische Blick auf Missstände gehört zu den Aufgaben der freien Presse. Fehlentwicklungen zu benennen, ist im demokratischen Staat nicht nur das Recht, sondern geradezu die Pflicht von Journalisten, die ihren Beruf ernst nehmen. Bevor eine Redaktion etwas anprangert, muss sie den Sachverhalt sorgfältig ermitteln. Stimmen die Fakten? Sind alle Argumente bekannt? Hat man alle Seiten gehört? Je härter ein Vorwurf, desto wichtiger die gründliche Recherche.

Aber gilt das auch für Leserbriefe? Darüber diskutierte ich vor einigen Wochen mit einer Leserin. Sie hatte einen aus meiner Sicht berechtigten Vorwurf erhoben. In einem Leserbrief war eine vereinsinterne Angelegenheit in die Öffentlichkeit gebracht worden. Die Verfasserin hatte einen nicht ganz glücklich abgelaufenen Disput während einer Übungsstunde geschildert und sich über den Übungsleiter beschwert. Der hatte keine Gelegenheit bekommen, seine Version des Vorfalls zu erzählen. Der Abdruck des Leserbriefs führte zu einem Zerwürfnis innerhalb des Vereins. Aus meiner Sicht, und das räumte auch die Redaktionsleitung ein, wäre der Leserbrief so besser nicht veröffentlicht worden. Man hätte die Sache stattdessen vollständig recherchieren und zu einem redaktionellen Beitrag machen können. Das teilte ich der Beschwerdeführerin mit.

Aber die Diskussion mit der freundlichen Dame setzte sich fort, als sie weitere Beispiele dafür nannte, dass im Leserforum der Zeitung Menschen kritisiert worden seien, ohne dass eine Gegenrecherche durch die Redaktion erfolgt sei. Die Leserbriefecke aber, so argumentiert sie, dürfe nicht zum „Pranger“ werden.

In einem von drei Fällen, die sie anführte, ging es um den Umgang einer Notdienst-Zahnarztpraxis mit einem älteren Patienten, in einem anderen um die Klage eines Freibadbesuchers über das bürokratische Verfahren, mit dem an der Kasse Jahreskarten ausgegeben werden. In beiden Fällen waren allerdings weder identifizierbare Menschen persönlich kritisiert worden noch ergaben sich Zweifel, ob die von den Leserbriefschreibern erzählten Geschichten wohl so geschehen sein könnten. Im Fall des Freibad-Leserbriefes war die Kritik zudem in einem spöttisch-satirischen Ton geäußert worden. Und Satire ist selbstverständlich erlaubt, auch in Leserbriefen.

Kurzum: Ja, eine Redaktion trägt Verantwortung für das, was in Leserbriefen steht, und sie muss sicherstellen, dass darin keine Unwahrheiten verbreitet und die Rechte Dritter nicht verletzt werden. Aber nein, sie muss die Leserbriefspalten nicht grundsätzlich von kritischen, manchmal auch sarkastischen und überdeutlichen Vorwürfen freihalten. Denn Pressefreiheit gilt im Rahmen der geltenden Gesetze auch für Leserbriefseiten.

Ein „Pranger“, da hat die Beschwerdeführerin Recht, sollte die Leserbriefecke der Zeitung nicht werden. Aber die Rubrik ist schon dafür da, dass Menschen, die sonst nicht so leicht Gehör finden, sich ans Publikum wenden und ihrem Herzen Luft machen können.

Dass dabei die Regeln eingehalten werden, dafür hat die Redaktion zu sorgen.

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2 Kommentare zu „Ein Forum, kein Pranger

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