Hinterher ist man immer klüger

Der Deutsche Ethikrat und die Medien in Corona-Zeiten

 „Wir werden uns alle viel verzeihen müssen.“ Was Gesundheitsminister Spahn zu Beginn der Corona-Pandemie mit Blick auf zu befürchtende Fehlentscheidungen sagte, gilt bis heute. Schließlich sind fast alle Menschen vom Ausmaß und der Wucht der Seuche überfordert worden. Auch die Medien waren auf so etwas nicht vorbereitet, weder in ihrer Arbeitsorganisation, bei der Hygienekonzepte und Telearbeit kaum eine Rolle gespielt hatten, noch wirtschaftlich, als ihnen plötzlich Werbeumsätze und Veranstaltungen wegbrachen. Und schon gar nicht waren sie gewappnet, was die Berichterstattung über die Infektionswelle und ihre Folgen anging.

Wie alle anderen mussten sich auch Journalisten in die Situation hineintasten. Herausfinden, was das für eine Krankheit ist, wie bedrohlich sie werden könnte, welche Schutzmaßnahmen es gibt, welche Aufgaben der Staat hat, wie die Zuständigkeiten sind, was eine Beschneidung von Freiheitsrechten an Fragen und Problemen aufwirft, wie mit den wirtschaftlichen und sozialen Folgen umzugehen ist und wie mit Falschinformationen und Verschwörungstheorien.

Und wem, fragten sich auch Journalisten, soll man glauben? Den streitenden Experten? Den unentschlossenen Politikern? Den Corona-Skeptikern, Masken-Hassern und Impfgegnern? Den Medizinern oder den Juristen? Spahn oder Lauterbach? Drosten oder Streek? Dem Spiegel oder der Springer? Die Pandemie nahm kein Ende, der Streit auch nicht.

Jüngst hat der Deutsche Ethikrat eine Studie zum Verlauf der Pandemie veröffentlicht. Auf 162 Seiten geht es ganz wissenschaftlich und trotzdem erstaunlich lesenswert um medizinische, politische, juristische, gesellschaftliche,  psychologische und andere Fragestellungen, die sich im Zuge der Krise aufgetan haben. Der Titel „Vulnerabilität und Resilienz in der Krise – Ethische Kriterien für Entscheidungen in einer Pandemie“ lässt nicht unbedingt ahnen, dass hier eine umfassende Zwischenbilanz gezogen wird, aus der sich für die Zukunft einiges lernen lässt.

So wird den Politikern ins Stammbuch geschrieben, dass bei einschneidenden Maßnahmen in Pandemiezeiten ein hohes Maß an Eindeutigkeit, Klarheit und Nachvollziehbarkeit unerlässlich sei und dass unvollständige, unklare oder unverständliche Vorschriften die Akzeptanz in der Bevölkerung erschüttern könnten. „Das Vertrauen der Menschen in den deutschen Staat als Demokratie, Rechtsstaat und Bundesstaat hat in der Pandemie gelitten“, urteilt der Ethikrat.

Für die Presse gilt das vermutlich auch. So schreibt der Ethikrat: „Massenmedien (…) haben gerade in Krisenzeiten die für eine republikanisch verfasste Demokratie unverzichtbare Aufgabe, das strittige Für und Wider von Maßnahmen in einer räsonierenden Öffentlichkeit hör‐ und sichtbar zu machen.“ Der kritische Teil dieser Aufgabe sei zu Beginn der Corona‐ Krise nicht immer im wünschenswerten Maß erfüllt worden. Die anfängliche Zurückhaltung mit Kritik sei angesichts der Größe, der Neuartigkeit und der Plötzlichkeit der Problemlagen vielleicht verständlich und berechtigt gewesen. „Im weiteren Verlauf der Pandemie jedoch wurden selbst offenkundige Fehlentwicklungen (…)  kaum in der notwendigen Deutlichkeit aufgegriffen.“

Für die Zukunft empfiehlt der Ethikrat nicht nur den Medien, in Phasen großer Unsicherheit die öffentliche Debatte mit besonderer Sensibilität für mögliche Folgen von Maßnahmen zu führen. Nach Aufmerksamkeit heischende Panikmache sei ebenso zu vermeiden wie Verharmlosung und grundlose Entwarnung. Aufklärung und Information dürften nicht bevormundend „von oben herab“ erfolgen, es müsse auch Raum für Diskussion gegeben werden. Wichtig sei zugleich, in solchen Zeiten der Flut an Falschinformationen entgegenzuwirken.

Der Ethikrat fordert Politik und Wissenschaft, aber auch die Medien zu einer selbstkritischen Aufarbeitung auf, die es ermögliche, Schwachstellen offenzulegen und Abläufe zu korrigieren. „In einer Krise von weltgeschichtlichem Ausmaß sind Fehler und Fehlentscheidungen unvermeidlich“, schreiben die Autoren und drücken es schließlich so volkstümlich aus wie Jens Spahn zu Beginn der Krise: „Hinterher ist man immer klüger.“

Die ganze Studie ist hier zu finden: www.ethikrat.org/publikationen/

2 Kommentare zu „Hinterher ist man immer klüger

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