Herkunftsnennung bei Verdächtigen und Straftätern – eine Leserin hat sich beschwert
Ob Journalisten, wenn sie über Straftaten berichten, die Nationalität von Verdächtigen erwähnen dürfen – das ist eine ewige Streitfrage. Eine Leserin hat sich mit diesem Thema an den Ombudsmann gewandt. Grund war die Schlagzeile auf der Titelseite am 23. Februar: „Italiener rammt Kollegen ein Messer ins Herz“. Frau H. schreibt: „Da zeigt sich zu meinem Entsetzen (…) eine latent vorhandene Fremdenfeindlichkeit. Ich glaube nicht, dass da jemals stehen würde: Deutscher …“ Der Beitrag war gleichlautend in der Wilhelmshavener Zeitung, im Jeverschen Wochenblatt, auf Lokal26 und im Newsletter der Zeitungsgruppe veröffentlicht worden, immer mit derselben Überschrift. War das richtig?

Es gibt zu der Frage der Herkunftsnennung – zu der neben der Nationalität auch die Erwähnung der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion oder körperlicher Merkmale („südländischer Typ“) gehören kann – keine festen Regeln. In der Vergangenheit hielt sich die Mehrzahl der Medien an den Pressekodex des Deutschen Presserates. Ziffer 12 behandelt das Thema Diskriminierung: „Niemand darf wegen seines Geschlechts, einer Behinderung oder seiner Zugehörigkeit zu einer ethnischen, religiösen, sozialen oder nationalen Gruppe diskriminiert werden.“ In einer ergänzenden Richtlinie wird ausgeführt, dass die Erwähnung der Zugehörigkeit eines Verdächtigen oder Täters zu einer solchen Minderheit nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung eines individuellen Fehlverhaltens führen darf. Die Zugehörigkeit soll in der Regel nicht erwähnt werden, Ausnahmen soll es nur im begründeten öffentlichen Interesse geben.
Bis zur Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015 war dies weitgehend Konsens in den Medien. Seither und besonders nach den Vorfällen in der Silvesternacht 2017 am Kölner Dom, wo es zu Übergriffen aus einer Gruppe von Nordafrikanern heraus gekommen war, wurde die Richtlinie heftig diskutiert und von etlichen Medien nicht mehr beachtet. Nationalität und Ethnie von Tatverdächtigen werden nach wissenschaftlichen Erhebungen heute deutlich häufiger genannt. Das kann auch sinnvoll sein, denn spezielle Erscheinungen von Kriminalität können in bestimmten Milieus besonders ausgeprägt sein, denken wir an das Phänomen der „Ehrenmorde“, an Clankriminalität oder an die Drogenszene.
Wie liegt der Fall nun bei dem angeklagten Italiener? Die Umstände der vor dem Landgericht Oldenburg verhandelten Tat – ein 39-jähriger Gastronomie-Mitarbeiter soll im September 2021 auf Wangerooge einem Arbeitskollegen ein Messer in die Brust gerammt haben – sprechen nicht grundsätzlich gegen eine Nennung der Nationalität. Denn die Tat geschah in einer Gemeinschaftsunterkunft für italienische Arbeitskräfte, es war dort zu Streitigkeiten gekommen, es ging um Frauen, Alkohol war im Spiel, das Opfer, das vor Gericht aussagen soll, lebt wieder in Italien und muss extra anreisen. Nach den Kriterien des Presserats wäre die Nennung wohl nicht zu rügen.
Aber wäre der Bericht weniger verständlich, wenn man die Nationalität nicht genannt hätte? Wohl kaum. Hätte es in einer Unterkunft von Männern anderer Herkunft unter den anzunehmenden Umständen (Einsamkeit, Enge, Stress, Alkohol, psychischer Druck) zu ebensolchen Vorfällen kommen können? Bestimmt. Ist die Erwähnung des „Italieners“ geeignet, Vorurteile zu verstärken? Das wohl nicht, denn Italiener zu sein, ist bei uns eher positiv konnotiert, und das nicht erst seit der Spaghetti-Werbung aus den Neunzigerjahren („Weck den Italiener in Dir!“).
Grundsätzlich, das besagt der Pressekodex, muss in jedem Einzelfall abgewogen werden, ob die Herkunft veröffentlicht wird. Das hat die Redaktion getan (siehe unten) und sich dafür entschieden. Aber war das richtig?
Jein, lautet meine Bewertung. Wenig spricht gegen die Nennung der Nationalität im Text, schon wegen der besonderen Umstände auf der Insel und des Prozesses. Die Formulierung in der Schlagzeile hätte nicht sein müssen. Da macht nämlich auch der Presserat in seinen Leitsätzen einen Unterschied: Das Risiko einer diskriminierenden Verallgemeinerung bestehe unter anderem, wenn die Gruppenangehörigkeit „unangemessen herausgestellt“ werde, „etwa durch Erwähnung in der Überschrift oder Wiederholungen.“
Der Verlockung einer plakativen Überschrift hätte die Redaktion aus meiner Sicht besser widerstanden.
Helmut Burlager, Ombudsmann
Und das sagt die Redaktion zu dem Thema
In der Redaktion ist intensiv darüber diskutiert worden, ob die Nationalität in der Überschrift genannt wird oder nicht, denn natürlich waren sich gerade die erfahrenen Kollegen ihrer Verantwortung bewusst. Die Entscheidung fiel nach einer sorgfältigen Abwägung.
Laut Richtlinie 12.1 des Pressekodex ist zwar darauf zu achten, dass die Erwähnung der Zugehörigkeit von Tätern nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt. Aber: Bei einem begründeten öffentlichen Interesse darf die Nationalität genannt werden. Für die Nennung kann zudem auch sprechen, wenn eine besonders schwere oder außergewöhnliche Straftat vorliegt. In diesem Fall waren also zwei Kriterien ausschlaggebend: erstens die Schwere der Tat und zweitens ein begründetes öffentliches Interesse.
Letzteres lässt sich ganz neutral schon daher ableiten, dass die Tat auf einer Insel mit gut 1000 Einwohnern geschehen ist. Jeder kennt jeden, bei einem versuchten Totschlag auf einer solch kleinen Insel besteht ein begründetes öffentliches Interesse. Die Nationalität des mutmaßlichen Täters ist direkt im Kontext mit der Tat zu sehen, führt also nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens:
– die Tat passierte in einer Gemeinschaftsunterkunft für ausschließlich italienische Restaurant-Mitarbeiter
– auch das Opfer ist Italiener
– alle Beteiligten und Zeugen sind Italiener
– das Opfer befindet sich derzeit in Italien.
Italien spielt bei der Berichterstattung über diesen versuchten Totschlag eine zentrale Rolle, zwischen Tat und Nationalität gibt es einen Zusammenhang, da der gesamte Streit, der Tatort und die Personen als Einheit zu sehen sind. Und genau dieser Hintergrund ist wichtig für den Leser, um die Tat und die Tatumstände einordnen zu können.
Es war eben kein Wangerooger, kein x-beliebiger Restaurantmitarbeiter, keine Saisonkraft vom Festland – und das darf der Leser auch bereits in der Überschrift erfahren. Der Redaktion geht es nicht um Klickzahlen oder das unangemessene Herausstellen, sondern bei aller Vorsicht und Sorgfalt in erster Linie um unabhängige und authentische Berichterstattung.
Cornelia Lüers
Gesamtredaktionsleitung
Ein Kommentar zu „Gehört der Italiener in die Überschrift?“